Susanne Zolling, Historisches Archiv und Einrichtungsgeschichte BruderhausDiakonie Reutlingen

>Zuerst wollten wir aus dir einen Konditor machen<

Gustav Werner in einem fiktiven Gespräch mit Wilhelm Maybach über dessen Ausbildung im Bruderhaus Reutlingen

Gustav Werner: Lieber Wilhelm Maybach, schön, Dich wieder mal zu sehen! Als ich Dir das erste Mal begegnet bin, war Dir in keiner Weise anzusehen, dass Du einmal „König der Konstrukteure" genannt wirst.

Werner Der Theologe und Sozialreformer Gustav Werner (1809-1887) kümmerte sich im Bruderhaus Reutlingen um alte Menschen und elternlose Kinder. Auch Wilhelm Maybach nahm er auf.
[Bild: Bruderhaus Diakonie Reutlingen]

Wilhelm Maybach: Bestimmt nicht! Geboren wurde ich ja am 9. Februar 1846 als zweiter von fünf Söhnen eines geschickten Schreinermeisters in Heilbronn am Neckar. Damals, als ich 1856 als 10-jähriger nach Reutlingen kam, sah es nicht gut mit mir aus. Meine Mutter war 1854, mein Vater 1856 gestorben.

Werner: Eure Verwandten konnten Dich und Deine Brüder leider nicht alleine versorgen. Mit einer Anzeige „Bitte an edle Menschenfreunde" im „Stuttgarter Anzeiger" wandten sie sich 1856 hilfesuchend an die Öffentlichkeit.

Maybach [Bild: Stadtarchiv Heilbronn]

Maybach: Und diesen Aufruf habt Ihr gelesen und mich ins Bruderhaus geholt: „In Reutlingen fühlte ich mich durch Kameraden und den groß angelegten Betrieb bald heimisch und durch liebevolle Behandlung verging mein Heimweh." Jede Stunde des Tages wurde mit Schulbesuch, Arbeiten im Feld, Stall und Garten genutzt. Gerne erinnere ich mich zum Beispiel noch an die Hausgenossin Lisette Botsch, die mich in Handarbeit und Stenografie unterrichtete. 13 prägende Jahre, bis 1869, blieb ich im Bruderhaus. In dieser Zeit habe ich viel erlebt: den Aufschwung und Aufbau zweier Fabriken, die Finanzkrise Eurer Anstalten und Fabriken und auch die Bewältigung der Schwierigkeiten mithilfe der Gründung des Aktienvereins zum Bruderhaus.

Bruderhaus Wilhelm Maybach lebte 13 prägende Jahre im Bruderhaus Reutlingen, das er 1865/66 gezeichnet hat.
[Bild: Rolls-Royce Power Systems AG] 

Werner: Ja, das waren äußerst schwere Zeiten, die uns allen einiges abverlangt haben. Aber weißt Du noch: Zuerst wollten wir aus Dir einen Konditor machen. Wahrscheinlich brauchten wir gerade in der Bruderhaus-Backstube einen Lehrling. Aber ich hatte bereits Deine Liebe zur Technik und Dein Zeichentalent erkannt. Zudem lautete mein Ausbildungsprinzip: umfassend und nachhaltig. So ermöglichte ich Dir von 1861 bis 1866 eine Ausbildung in der Maschinenfabrik.

Maybach: Ich hatte eine sehr gute Anleitung im technischen Zeichnen und dabei wurde mein Erfindergeist geweckt: „… bald (durfte) ich alle Werdegänge meiner und anderer Konstruktionen in der Modellschreinerei, Gießerei und den übrigen Werkstätten verfolgen." Ich lernte Fremdsprachen und bildete mich in Physik und Freihandzeichnen weiter. Nach meiner Lehre wurde mir die Stelle eines Zeichners und Konstrukteurs im technischen Büro der Maschinenfabrik übertragen. Dort blieb ich dreieinhalb Jahre, bevor ich im September 1869 das Bruderhaus verließ und zur Maschinenbau-Gesellschaft Karlsruhe wechselte. Noch während meiner Bruderhaus-Zeit erhielt ich 1869 mein erstes Patent für eine „Heizvorrichtung an Vergoldungs- und Hochdruckpressen".

Werner: Die Empfehlung nach Karlsruhe kam von Gottlieb Daimler, der 1863 als „Konstrukteur und Werkstätteninspektor" in die Bruderhaus-Fabrik nach Reutlingen kam. Auch er erhielt hier, 1865, sein erstes Patent „auf eine neue Schaltvorrichtung an Sägewerken". Reutlingen war für Daimler eine berufliche Station, um mit den neuesten Technologien des Maschinenbaus vertraut zu werden. Leider konnte er seine weiteren beruflichen Ziele im Bruderhaus nicht verwirklichen und wechselte deshalb 1868 nach Karlsruhe.

Maybach: Ja, aber wie und wann wir uns im Bruderhaus begegnet sind, kann ich nicht sagen. Daimler war zwölf Jahre älter als ich und schon ein erfahrener Ingenieur. 1863 war ich ja noch Auszubildender, aber Daimler förderte mein Talent und war eine Art väterliche Autoritätsperson für mich. Insgesamt arbeiteten wir über 30 Jahre eng zusammen. Wir hatten beide an der gemeinsamen Entwicklung des Benzinmotors und des Automobils unseren Anteil: Daimler als Erfinder des vierrädrigen Kraftwagens, ich als „König der Konstrukteure".

Werner: Wie kamst Du zu dieser Ehrbezeichnung?

Maybach: Emil Jellinek, reicher Tabakhändler und begeistert vom Rennsport, träumte von immer schnelleren Autos. Mein Bienenwabenkühler war eine einfache, aber geniale Lösung für die ständig heiß gelaufenen Motoren. Nun stand Jellineks Wunsch nichts mehr im Wege. Den Anfang machte der 35-PS-Mercedes-Wagen von 1901 mit tief liegendem Motor und breit gebautem Fahrgestell. Die Namensgebung „Mercedes", nach der erstgeborenen Tochter Jellineks, erwies sich als gelungene Werbestrategie.

Kuehler Eine einfache, aber geniale Lösung für die ständig heiß gelaufenen Motoren: Wilhelm Maybachs Bienenwabenkühler, der 1900 eingeführt wurde. [Bild: Mercedes-Benz Classic}

Werner: Als „König der Konstrukteure" spricht man auch heute immer noch von Dir; sogar Schulen hat man nach Dir benannt.

Maybach: Jetzt sollte ich auch von Euch und Eurem Werk reden. Denn für mich war es entscheidend, dass ich ins Bruderhaus kam und in dieser Gemeinschaft leben konnte. Für Euch war die Umsetzung christlicher Nächstenliebe der Motor, um soziale Probleme anzugehen und heilsame Lebensverhältnisse in der Gesellschaft zu gestalten. Die Industrialisierung mit neuen sozialen Fragen hat Euch nicht abgeschreckt, sondern geradezu ermutigt, selber sogenannte christliche Fabriken zu gründen: Nächstenliebe und Gerechtigkeit in allen Bereichen des täglichen Lebens waren Eure Antworten auf die soziale Not im 19. Jahrhundert. Diese Grundsätze haben mich für mein Berufsleben geprägt und ich erinnere mich daher gerne an die Zeit im Bruderhaus.

Wörtliche Zitate aus: Wilhelm Maybach: Daten und Erinnerungen aus meiner Jugend. Cannstatt 18. Januar 1922. Kopie im Archiv der BruderhausDiakonie Reutlingen.